Tims langer Weg nach Deutschland (3)

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Der neunjährige Tim hat seine Mutter an König Alkohol verloren und darf mit seiner Tante beziehungsweise Vormund noch nicht nach Deutschland fahren. Zuerst muss ein Moskauer Jugendamt grünes Licht für seine Auswanderung geben. Dies erfordert einen Bericht vom Jugendamt Kreis Kleve über die Lebensbedingungen der Pflegeeltern. Das sind meine Frau und ich.

Wo steckt bloß der Bericht? Die russische Post ist äußerst unzuverlässig, aber dem deutschen Jugendamt ist das ganz egal. Mein Flehen, das Stück auf meine Kosten mit DHL zu verschicken, kletterte auf die Felsen.

Erste Hürde: Die Deutsche Post meldet, dass sie Track & Trace in Russland nicht über ihre Website anbieten kann. Zweite Hürde: Die russische Post erkennt den deutschen Track & Trace-Code nicht. Knobeln, knobeln, knobeln. Was zeigt sich? Man muss die letzten drei Ziffern des Barcodes streichen und dann gelingt es. Wirr, wenn man nicht mit diesem Wissen geboren wird.

Der Brief ist in Scharapowo, 41 Kilometer außerhalb von Moskau, festgefahren. Ähnlich wie Tennis-Star Maria Scharapowa liegt die Betonung auf dem zweiten a. Das für ein komisches Intermezzo. Seit sieben Tagen schon befindet sich das Poststück dort, und es gibt keine Bewegung. Meine Frau ruft die russische Post an.

„O, dann ist der Brief bei den Zollbehörden”, sagt eine Dame.
Meine Frau will wissen, wie wir die Dinge beschleunigen können.
„Kontakt mit dem Zoll ist nicht möglich”, sagt die Dame.
Wie lange kann die Zollabfertigung dauern?
„Die Frist für die Zollbehörden ist unbegrenzt.”

Per E-Mail erhalte ich gute Ratschläge von meinen Freunden: „Bitten Sie den Leiter des Jugendamtes in Kleve um Hilfe.” Und: „Anwalt einsetzen.”

Leiter U. des Jugendamtes hat das Herz am rechten Fleck, diesem Interview zufolge. Ich erkläre ihm die Situation per E-Mail und bitte um Hilfe: „Ich verstehe natürlich, dass es Regeln und Protokollen gibt, aber ich wäre sehr dankbar, wenn Sie einen Weg finden könnten, den Bericht innerhalb der rechtlichen Möglichkeiten so schnell wie möglich nach Moskau zu schicken. Ich bin bereit, die Versandkosten zu übernehmen.”

Antwort von Leiter U., letzte Hoffnung für Waisenkinder: Null, nichts, niente. Er schweigt.

Einen Anwalt einsetzen dann? ‘Kommen Sie mal nach Köln”, schreibt ein Anwalt für Familienrecht. ‘Die Erstberatung kostet 230 Euro.’
Und was kostet mich seine Hilfe insgesamt?
‘Erfahrungsgemäß werden Sie auf 1500 bis 2000 Euro kommen.’

Des einen Not, des andern Brot. Ich versuche es in Kleve. Ich frage eine Anwältin, ob es Sinn macht, das Jugendamt über einen Jurist auf zu rütteln, diesen Brief noch einmal zu verschicken, diesmal per DHL. Mein Budget ist begrenzt, warne ich. Sie kann mir für 200 bis 300 Euro helfen, sagt die Rechtsanwältin.

‘Sehr geehrte Frau Leiter’, lautet die Anrede im Brief der Anwältin. Der Brief selbst war in Ordnung. Der Name war mir neu, aber die Anwältin hatte vorher schon einmal etwas mit dem Jugendamt zu tun gehabt und wußte vielleicht besser Bescheid. Dennoch rief ich sicherheitshalber mit der Frage an, wer Frau Leiter war.
„Sie haben sie selbst erwähnt”, sagte die Anwältin.
Da war ich einfach platt. ‘Leiter der Abteilung: Herr U.’, stand in meiner E-Mail.
„Ups!”, sagte die Anwältin.
Berichtigt. Nahm ich an. Aber am nächsten Tag meldete eine Sekretärin, dass sie den Brief noch einmal geschickt hatte. Die falsche Anrede war einfach verschickt.

Fast eine Woche lang blieb es still. Nur auf mein Drängen nam die Anwältin das Telefon um sich zu erkundigen.
„Ich habe mit Herrn U. gesprochen”, sagte die Anwältin, „und er sagte, dass es hier nicht mit der Versendung des Schreibens getan wäre, sondern ein langwieriges Ruslandsadoptionsverfahren mit dem Landesjugendamt NRW Rheinland durchzuführen ist.”
Da war ich wieder platt. Die Anwältin und Herr U. hatte auf meine Kosten umfassend internationale Adoptionen besprochen, obwohl es kein Adoptionsfall war. Es geht um Vormundschaft, und meine Frau wurde bereits als Vormund in Moskau eingesetzt.

Der Rechtsanwalt würde maximal 300 Euro in Rechnung stellen. Aber nein, es gab eine wundersame Vermehrung. In einem Umschlag, der auf die Matte fällt, gibt es ein Rechnung von 1005,25 Euro. Glücklicherweise erweist sich die Anwältin als recht barmherzig: Teilzahlung erlaubt. Deshalb müssen wir jetzt auch mit einer Anwaltskanzlei den Kampf aufnehmen.

Plötzlich bewegt sich der deutsche Brief in Russland. Eines Samstags stellt sich heraus, dass das Stück in einem Postamt gelandet ist, wo ihn das Moskauer Jugendamt abholen kann.

Montag. Meine Frau wartet und wartet und wartet. Sie ruft die Jugendhilfe an. „Keine Ahnung”, sagt ihr Ansprechpartner. „Wir haben keine Nachricht erhalten.”

Meine Frau geht zur Post und erkundigt sich nach einem Einschreibebrief aus Deutschland.
„Ja, er ist hier”, sagt eine Dame, „aber ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll.”
Was ist los? Es ist kein Empfänger daran beteiligt. Das Dokument ist an die Russische Föderation gerichtet. Stellen Sie sich folgende Beanschriftung vor: An die Bundesrepublik Deutschland, Kuhstraße 4, Kleve.
Meine Frau bietet an, das Stück in Empfang zu nehmen.
„Und wer Sind Sie dann?”
„Ich bin vom Jugendamt”, lügt meine Frau. Es fühlt sich gut an.
Ein argwöhnischer Blick. „Was ist Ihre Funktion?”
„Assistent.”
„Assistent von wem?”
„Vom Inspektor.”
„Bitte. Und nehmen Sie auch den Rest der Post mit.”
Meine Frau unterschreibt für den Empfang. Sie muss ihren Ausweis nicht vorzeigen.

Der Brief, den wir vom deutschen Jugendamt nicht sehen durften, ist in unserem Besitz. Meine Frau bringt ihn in das Moskauer Jugendamt. Sofort gibt man den Brief zurück, damit wir den deutschen Text ins Russische übersetzen können. Ein offizielles Dokument, das die Betroffenen erreicht? Undenkbar in Deutschland. Ordnung muss sein. Wenn das Jugendamt tot wäre, würde es sich im Grab umdrehen.

(Fortsetzung folgt.)

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