Tims langer Weg nach Deutschland (1)

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„Tim muss ins Kinderheim”, sagte meine Frau eines Tages, nachdem sie das Telefon aufgelegt hat. Tim, der achtjährige Sohn ihrer jüngsten Schwester, wurde seiner Mutter vom Jugendamt weggenommen, als sie ihn wieder sternhagelvoll von der Schule abholte. Die älteste Schwester übernahm vorübergehend die Pflege, konnte es aber nicht mehr bewältigen. Ihr 73-jähriger Mann war vor drei Jahren durch Schlaganfall gelähmt, und der Junge war so lebhaft und lästig, wie es sich für ein Kind gehört.

„Zu einem Waisenhaus?”, sagte ich. „Niemals. Wir nehmen das Kind unter unsere Obhut.”

Gesagt, getan! Und wir lebten noch lange und glücklich.

Also nicht. Denn es gibt eine große fette Grenze zwischen uns und dem Neffen: die Grenze zwischen der EU und Russland. Zuerst wird sich eine ganze Herde russischer Beamter in die Angelegenheit einmischen. Stempel und Unterschriften mussten erstellt werden, kurzum, die Flügel kamen auf Touren und wir, ein niederländisch-russisches Paar in Deutschland, durften Don Quichotte spielen. Und dann würde sich das Spiel in unserem Wohnsitzland Deutschland wiederholen.

Bereits im vergangenen Jahr hatte die Mutter wegen der Flasche mal das Sorgerecht verloren. Himmel und Erde hatte sie in Bewegung gesetzt, um ihr Kind zurückzubekommen. „Ich trinke nicht mehr. Bitte, bitte, gib ihn mir zurück.” Eigentlich wider besseres Wissen ließen das Jugendamt und der Richter sich im November überreden. Richter neigen dazu, bestehende Familienbeziehungen aufrechtzuerhalten.

Im März was es wieder so weit. Nach neuen Szenen der Trunkenheit auf dem Schulhof, wo die Mutter ihren Sohn sogar verlor, brachte die Polizei das Kind in ein Kinderheim. Dort holte ihn seine älteste Tante ab.

Im Mai eilte meine Frau, die Mitte der drei Schwestern, nach Moskau, weil Tims Mutter in einer Entzugsklinik außerhalb der Stadt war und ihre 88-jährige Mutter, jetzt allein zu Hause, drohte unterzugehen. Sie braucht Pflege. „Alarm”, sagte meine Frau am Telefon, sobald sie in Moskau war. Sie erzählte von der Bedrohung des Waisenhauses.

Sofort kontaktierte ich das Jugendamt in unserem Wohnsitzland Deutschland. ‘Wie gehe ich hier in Deutschland an die Vormundschaft heran?’, fragte ich per E-Mail. Dort öffnete sich ein Labyrinth gefüllt mit Führern, die ausnahmslos die Wegweiser falsch setzten. Mir stand eine Irrfahrt durch die Höhlen der deutschen Bürokratie bevor, mit einer bunten Sammlung von Schränken und Wänden als Hauptinstrument der sich sozial nennenden Arbeitern mit ihrer in Schwielen verschlammten Seele.

Dabei war Russland selbst kein Rennen. Der Richter könnte sich erneut für eine Fortsetzung der bestehenden Familienbeziehung entscheiden. Diese Chance war klein, aber bestand, da die Mutter wieder zu Hause war und das Getränk in Ruhe ließ, wenn auch dank einer monatlichen Vivitrolinjektion.

„Mami”, sagte Tim eines Tages, „kann ich dich mal unter vier Augen sprechen?”

„Selbstverständlich.” Die glückliche Mutter nahm das Kind mit ins Schlafzimmer der Zweizimmerwohnung.

„Mami, bitte, willst du dich nicht der Vormundschaft meiner Tante widersetzen, denn das würde meine Zukunft torpedieren.”

Der Junge plapperte brav den Text nach, den ihm eingeflüstert wurde von seiner ältesten Tante, die von dunklen Visionen über ihre Schwester gequält wurde, als wäre die Mutter nach Wiedererlangung des Sorgerechts wieder dem Trunk verfallen, während die mittlere Tante zurück zu Hause in Deutschland wäre und sie selbst nochmals Vormünderin werden müsste.

Die Mutter ermannte sich. „Wenn du das so willst, dann tue ich das.” Sie stürmte hinaus und schweifte an diesem Abend die Straßen Moskaus herum. Ohne Vivitrol hätte sie wieder zur Flasche gegriffen.

Der Mutter wurde die elterliche Sorge im August vom Richter entzogen. Das Jugendamt ernannte meine Frau als Vormund. Aber das Kind durfte noch nicht mit nach Deutschland kommen, denn zuerst musste unser Haus geeignet befunden werden. Das Moskauer Jugendamt konnte die Inspektion nicht selbst durchführen, also bat sie ihren deutschen Amtskollegen um Hilfe.

Und das würden wir wissen.

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